Wachsame Sorge
Alleine Erziehen: Wachsame Sorge
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Wachsame Sorge – Das Konzept der neuen Autorität von Haim Omer

von Jana Strahl

„Wachsame Sorge“ – was ist eigentlich damit gemeint? Der Begriff „Wachsamkeit“ wird heute ebenso wie „Autorität“ eher zwiespältig betrachtet. Wir assoziieren ihn eher mit Kontrolle und Überwachung, Attribute eines autoritären Erziehungsstils. Über Jahrhunderte war Elternschaft in sich selbst begründet und folgte der Ordnung der Generationenfolge. Angelegt war sie als Institution, funktional und ohne große Emotionalität. Das bedeutet nicht, dass Eltern und Kinder früher einander nicht liebten, aber, was die elterliche Rolle angeht, so war diese nicht hinterfragbar und eindeutig. Ausgerichtet auf Ehrfurcht und Ehrerbietung den Eltern gegenüber war es ebenso selbstverständlich wie die Macht und die Pflicht der Eltern zu strafen, wenn Regeln nicht eingehalten wurden.

In den 70er Jahren hatte – auch wegen der schrecklichen Erfahrungen in der Nazizeit – die autoritäre Erziehung ausgedient. Was folgte, waren Konzepte des permissiven Erziehungsstils, also antiautoritär und „Laisser faire“. Zum einen war die Erziehung geprägt von Offenheit, Freiheit, Vertrauen und Ermutigung mit einer hohen Responsivität gegenüber den Wünschen des Kindes bis hin zur Selbstaufgabe der Elternverantwortung. Elterliches Regulieren galt als verpönt, alles wurde verhandelt und ausdiskutiert, ganz gleich, in welchem Alter die Kinder waren. So vielversprechend diese neue Haltung schien, so ernüchternd waren dann doch die Ergebnisse. Viele verschiedene Studien belegten, dass vom Aufblühen und Entfalten der kindlichen Potenziale wenig übrigblieb. Weil diese Kinder sich nie anpassen mussten, zeichneten sich die so aufgewachsenen durch geringe Frustrationstoleranz, mangelnde Impulskontrolle und generellen Problemen der sozialen Anpassung aus.

Kinder und Jugendliche entwickeln ein positives Selbstbild auf der Grundlage von Erfahrungen, dass sie mit Schwierigkeiten umgehen können – diese Art von Erfahrungen schaffen Erfolgserlebnisse. Heutzutage werden Kindern und Jugendlichen häufig vermeintliche Probleme aus dem Weg geräumt. Viele Eltern verstehen moderne Erziehung so, dass sie ihren Kindern und Jugendlichen allumfassend Entscheidungsbefugnis für das, was sie tun wollen oder auch nicht, überlassen. Mögen sich die Kinder und Jugendlichen Herausforderungen nicht stellen, müssen sie es allzu oft auch nicht tun. Der Konflikt heutiger Eltern besteht häufig darin, dass sie eine Autorität mit Willkür, Kontrolle und Strafe nicht mehr wollen bzw. können. Permissive Erziehung als eine Erziehung ohne Forderung an die Kinder kann aber auch als gescheitert angesehen werden.

Der israelische Psychologe und Autor Prof. Dr. Haim Omer, Professor an der Universität Tel Aviv, zeigt mit seinem Modell der „Neuen Autorität“ ein Beispiel für autoritative Erziehung. Diese nur als einen Mittelweg zwischen den beiden Polen „autoritär“ und „antiautoritär“ zu bezeichnen, greift deutlich zu kurz, aber sie zeichnet sich in der Tat durch eine hohe Responsivität – das Eingehen auf die Wünsche des Kindes/ Jugendlichen – und ein ebenso hohes Maß an Kontrolle aus.

Das Konzept Omers differenziert unterschiedliche Aspekte in einer Gegenüberstellung zur „Traditionellen (alten) Autorität“. So erklären sich die wichtigsten Punkte in aller Kürze und Prägnanz.

 

Distanz vs. Beziehung Die traditionelle Autorität erlaubt im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern keine Nähe, sie gründet auf Respekt im Sinne von Furcht und Distanz. Beziehung und Beziehungsarbeit sind der Ansatz der „Neuen Autorität“ und basieren auf den Forschungen und Erkenntnissen zur Bindungstheorie. Gemeint ist hier eine fortwährende Begleitung des Kindes/ Jugendlichen durch die Eltern im Sinne von „Auch, wenn ich nicht anwesend bin, ich bin bei dir und sorge mich um dich.“

Hierarchie vs. Präsenz In der autoritären Erziehung beruft sich der Erwachsene allein auf seine Position und seinen gegenüber dem Kind höheren Status. Demgegenüber steht in der autoritativen Erziehung und im Konzept Omers die Präsenz als eine Positionierung der Eltern mit ihren Werten und Überzeugungen im Sinne von „Ich bin da und bleibe da, komme was da wolle!“ Damit verbunden ist gleichsam die Botschaft an die Kinder/ Jugendlichen, dass diese nichts tun könnten, womit sie die Eltern verlieren würden.

Kontrolle vs. Selbstkontrolle Die traditionelle Autorität meint mit Kontrolle eigentlich Überwachung. Es wird auf nahezu jede Entscheidung des Kindes/ Jugendlichen Einfluss genommen. Im Verständnis der „Neuen Autorität“ kann der Erwachsene nur sein eigenes Verhalten bestimmten, nicht aber das des Kindes / Jugendlichen. Dessen Verhalten kann er nur inspirieren und ihm z.B. über logische Folgen Lernerfahrungen ermöglichen, die ihn zu richtigen Entscheidungen führen.

Sanktionen vs. Wiedergutmachung Autoritäre Erziehung setzt auf Sanktionen bei auffälligem Verhalten, der Erwachsene MUSS diese durchsetzen, zur Wahrung seiner Autorität. Nicht selten entsteht darauf ein Machtkampf auf der Basis von Sieg und Niederlage, wobei eine Niederlage von beiden Seiten als Gesichtsverlust empfunden wird. Stattdessen setzt Omer auf Wiedergutmachung als einen Akt des aufeinander Zugehens und der sozialen Reintegration. Das Kind bzw. der Jugendliche kann nicht nur den entstandenen Schaden beheben, sondern auch sein Ansehen in der Familie wiederherstellen. Der Impuls zur Wiedergutmachung kann von den Eltern eingeleitet werden „Was könntest du tun?“ aber auch vom Kind/ Jugendlichen selbst kommen. Verstanden werden, soll die Wiedergutmachung als ein dialogischer Prozess, an deren Ende die volle Rehabilitation des Kindes/ Jugendlichen steht.

Alleingang vs. Unterstützung Der autoritär erziehende Erwachsene handelt im Alleingang, weil er es als Schwäche ansieht, Hilfe von anderen anzunehmen. Zudem kann er Fehler aus Angst vor Gesichtsverlust nicht eingestehen und lässt sich kaum in die Karten schauen. Wer hingegen autoritativ und mit dem Konzept der „Neuen Autorität“ erzieht, setzt auf Unterstützung und nutzt ein Netzwerk vieler an der Erziehung des Kindes/ Jugendlichen beteiligten Personen. Das ist in jedem Fall der Partner, aber auch die erweiterte Familie (z.B. Großeltern), Erzieher/ Lehrer und selbstverständlich zählen auch Beratungsstellen und Familienzentren dazu. Durch diese Vernetzung wird die Welt des Kindes bzw. Jugendlichen integrierter mit einer Transparenz, ohne zu beschämen, im Sinne von Berichterstattung.

Dringlichkeit vs. Aufschub/ Beharrlichkeit In der traditionell autoritären Erziehung dulden Maßnahmen/ Sanktionen keinen Aufschub, der Erwachsene muss sofort reagieren, er selbst verlangt es von sich. Das führt häufig zu impulsiven, überzogenen Reaktionen. Kinder und Jugendliche sind hier nicht selten der ganzen Wucht elterlicher Emotionen ausgesetzt, wobei die konkrete Sachbotschaft vielfach in den Hintergrund tritt. Demgegenüber muss ein Erwachsener, der autoritativ erzieht, nicht sofort Maßnahmen ergreifen. Er kann sich Zeit geben, zunächst seine Emotionen zu beherrschen und dann mit etwas Abstand eine Lösung suchen. Hier ist es gut, wenn der Erwachsene sein Handeln dem Kind bzw. Jugendlichen gegenüber transparent macht und etwa ankündigt „Ich akzeptiere dieses Verhalten nicht und werde mich … beraten und Maßnahmen überlegen.“ Diese zeitliche Vertagung einer Entscheidung gibt Erwachsenen einen Handlungsspielraum, eine wirklich gute Lösung zu finden, wobei der Erwachsene an der Sache dranbleibt und darauf zurückkommt.

Fazit: Gehorsam vs. Wachsame Sorge Im Fazit zeigt sich, dass eine traditionell verstandene autoritäre Erziehung geprägt ist vom Gehorsam des Kindes und gleichsam von der Furcht des Erwachsenen, seine Autorität einzubüßen, wenn dies anders ist. Dabei zeigt sich, dass der Grad der Autonomie des Kindes abnimmt mit zunehmenden Kontroll-Gehorsam. Bei der wachsamen Sorge handelt es sich dagegen um eine Erziehungshaltung, in der die Eltern auf aktive Weise am Leben des Kindes Anteil nehmen. Sie tun dies zunächst achtsam distanziert und vertrauend beobachtend, um bei Bedarf genauer hinzuschauen. Wird es notwendig zu handeln, z.B. bei Gefahr für das Kind bzw. den Jugendlichen, greifen die Eltern ein und handeln entschlossen.

Omer schreibt dazu in seinem Buch „Wachsame Sorge – Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind“: „Somit erweist sich die wachsame Sorge als ein flexibler Vorgang: Die Eltern üben Achtsamkeit und begleiten das Kind mit einer Distanz, die für sie und das Kind angebracht ist, sind aber im Notfall dazu bereit, eine das Kind betreffende Sachlage aus unmittelbarer Nähe zu betrachten und, wenn es zum Schutz des Kindes nötig ist, einzuschreiten.“

Mehr zur „Neuen Autorität“ und zur Haltung der wachsamen Sorge finden Interessierte in den gleichnamigen Bücher von Haim Omer, erschienen im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht: Neue Autorität (Omer/ Streit; V&R 2016; ISBN 978-3-525-49158-4) und Wachsame Sorge (Omer; V&R 2016; ISBN 978-3-525-40251-1). Für Eltern von Jugendlichen in der Pubertät kann weiterführen auch „Autorität durch Beziehung – Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung“ (Omer/ von Schlippe; V&R; 2016; ISBN 978-3-525-49077-8).   

Quelle: "Wachsame Sorge" von Haim Omer
(Vandenhoeck & Ruprecht Verlag; 1. Auflage 2016; ISBN 978-3-525-40251-1)


Haim Omer

Haim Omer / Philip Streit

Neue Autorität - Das Geheimnis starker Eltern

1. Edition;
Vandenhoeck & Ruprecht; 2016
ISBN: 978-3-525-49158-4

Haim Omer

Wachsame Sorge - Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind

2. Edition;
Vandenhoeck & Ruprecht; 2016
ISBN: 978-3-525-40251-1

Haim Omer / Arist von Schlippe

Autorität durch Beziehung - Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung

9. Edition;
Vandenhoeck & Ruprecht; 2016
ISBN: 978-3-525-49077-8