
Kindgerechte Trauerarbeit: 10 Fragen an Expertin Margit Franz
von Jana Strahl
Wenn Kinder mit dem Tod und der Trauer konfrontiert werden, stehen viele Erwachsene – seien es Eltern, Angehörige oder pädagogische Fachkräfte – oft vor einer großen Herausforderung. Wie kann man Kindern in dieser schweren Zeit beistehen? Wie findet man die richtigen Worte und Gesten? Um diese und weitere Fragen zu beantworten, haben wir eine der renommiertesten Expertinnen auf dem Gebiet der frühkindlichen Pädagogik und Trauerbegleitung zum Gespräch gebeten: Margit Franz.
Die Diplom-Pädagogin und Diplom-Erziehungswissenschaftlerin aus Darmstadt ist eine anerkannte Fachautorin, Fortbildnerin und Beraterin mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Arbeit mit Kindern, Familien und pädagogischen Teams. Ihre berufliche Laufbahn ist tief in der Praxis der Elementarpädagogik verwurzelt. Nach ihrer Tätigkeit als Erzieherin und Leiterin von Kindertageseinrichtungen hat sie sich auf die Konzeption und Durchführung von Fortbildungen sowie auf die Beratung von pädagogischen Fachkräften und Trägern spezialisiert. Ihr Name steht für eine ressourcenorientierte und kindzentrierte Pädagogik, die die Stärken und Bedürfnisse der Kinder in den Mittelpunkt stellt.
Ein besonderer Schwerpunkt ihrer Arbeit, der ihr bundesweit Anerkennung eingebracht hat, ist die Auseinandersetzung mit tabuisierten Themen in der Pädagogik. Margit Franz hat es sich zur Aufgabe gemacht, Fachkräften und Eltern die nötige Sicherheit im Umgang mit Tod und Trauer zu vermitteln. Sie plädiert für einen offenen, ehrlichen und altersgerechten Dialog mit Kindern und zeigt Wege auf, wie Trauerprozesse sensibel und konstruktiv begleitet werden können.
Ihre umfassende Expertise spiegelt sich auch in ihrer Tätigkeit als Publizistin und Autorin wider. Sie hat zahlreiche Fachartikel und Bücher veröffentlicht, die mittlerweile als Standardwerke in der Aus- und Fortbildung gelten. Besonders hervorzuheben sind ihre praxisnahen Materialien für die Trauerarbeit mit Kindern. Mit Produkten wie dem Buch „Tabuthema Trauer in der Kita“ oder dem Kamishibai-Bildkartenset „Opas Engel“ gibt sie Erzieherinnen und Erziehern konkrete Werkzeuge an die Hand. Diese Materialien helfen dabei, das Unbegreifliche greifbar zu machen und Gesprächsanlässe zu schaffen. Ihre Veröffentlichungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie komplexe psychologische Zusammenhänge verständlich aufbereiten und direkt in den pädagogischen Alltag integrierbar sind.
Wir freuen uns sehr, mit Margit Franz eine so erfahrene und einfühlsame Gesprächspartnerin für dieses wichtige Thema gewonnen zu haben und ihre wertvollen Einblicke mit Ihnen teilen zu dürfen.
alleine-erziehen.de-Redakteurin Claudia Lange traf Margit Franz zu einem digitalen Interview:
Kinder haben ein Recht auf Wahrheit und Beteiligung. Deshalb ist es wichtig, dass wir die wertvolle verbleibende Zeit nutzen, um Kinder auf den Tod des Elternteils ehrlich, behutsam und entwicklungsangemessen vorzubereiten.
Wenn das Kind weiß, dass Mama oder Papa bald sterben wird, kann es entweder mit der sterbenden Person oder einer Person seines Vertrauens über das sprechen, was es beschäftigt. Es hat vielleicht das Bedürfnis seiner Mama / seinem Papa noch etwas Wichtiges zu sagen, auszusprechen oder zu klären. Diese Möglichkeit eröffnet sich für ein Kind jedoch nur, wenn es weiß, wie es um das Elternteil bestellt ist.
Auch wenn wir Erwachsenen uns „zusammenreißen“ und so tun, als ob nichts wäre, merken Kinder dennoch, dass da etwas ist von dem sie nicht wissen dürfen, was es ist. Daraus erwächst oftmals ein beängstigendes Gedankenkarussell. Kinder haben sehr feine Antennen und nehmen sensibel wahr, wenn da etwas ist. Alles das, was wir vor Kindern tabuisieren und geheim halten, verhindert eine gesunde Auseinandersetzung mit dem Thema. Wenn wir nicht mit Kindern sprechen, bleiben sie mit ihren Ängsten, Gefühlen und Gedanken allein – und das in einer Zeit, in der sie ganz besonders auf uns Erwachsene angewiesen sind.
Wir können erklären, dass die Mutter / der Vater sehr, sehr, sehr krank ist und die Ärzte / Ärztinnen alles versuchen werden bzw. versucht haben, um Mama / Papa wieder gesund zu machen. Wenn Mama / Papa nicht mehr gesund wird, dann muss sie / er sterben. Es ist wichtig, dass wir das „sehr, sehr, sehr“ betonen, damit das Kind nicht denkt, dass jede Krankheit unweigerlich zum Tod führt.
Bei einem Suizid hat ein Mensch für sich entschieden, nicht mehr weiter leben zu wollen. Die Gründe, die zu einem Suizid führen, können vielfältig sein, beispielweise eine unheilbare Krankheit, große Sorgen, tiefe Verzweiflung oder eine seelische / psychische Erkrankung. Für ein Kind ist es wichtig zu wissen, dass es auch Krankheiten gibt, die man nicht sehen kann (z.B. Depressionen).
Kinder haben ein Recht auf Wahrheit. Es ist wichtig, dass sie die Ursache kennen, die zum Tod eines Elternteils geführt hat. Indem Sie Ihrem Kind in entwicklungsangemessener Weise erklären, woran Mama / Papa gestorben ist, sorgen sie für Klarheit und geben keinen Raum für Spekulationen und mögliche Schuldgefühle: „Ist der Papa tot, weil ich böse zu ihm war?“
Auch wenn es Ihnen (verständlicherweise!) sehr schwerfällt und es Sie ganz viel Kraft kostet, Ihrem Kind ehrlich zu sagen, was passiert ist, ist es dennoch besser, als sich in ein Lügenkonstrukt zu verwickeln. Dieses Gespräch müssen sie nicht allein mit Ihrem Kind führen. Überlegen Sie, wer sie dabei begleiten und unterstützen könnte. Eine gute Freundin, ein guter Freund oder jemand aus dem Familien- und Bekanntenkreis, auch eine Hospizhelfer*in oder Seelsorger*in könnte Ihnen Sicherheit und Halt geben.
Kindern die traurige Wahrheit „zu ersparen“ bedeutet, ein Familiengeheimnis zu haben, das fortan vom Kreis der Wissenden gehütet werden muss. Oftmals wird ein Tuch des Schweigens über ein solches Geheimnis gelegt, sodass Kinder mit ihren Fragen und Fantasien allein bleiben. Früher oder später wird das Kind (meist von anderen) erfahren, dass der Papa gar nicht an Krebs gestorben ist, sondern sich das Leben genommen hat. Dadurch kommt es dann oft zum Vertrauensbruch und zu großer Enttäuschung: „Warum hast Du mich angelogen. Das stimmt gar nicht! Der Papa hat ganz viele Tabletten geschluckt – deshalb ist er gestorben!“ und „Alle haben es gewusst, nur ich nicht!“
Wenn ein Elternteil gestorben ist, ist die Angst des Kindes, auch noch den anderen Elternteil zu verlieren, absolut nachvollziehbar: „Stirbst du auch noch?“ - es ist die Frage nach der Sicherheit im Leben. Man könnte es einem Kind vielleicht so erklären: Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst, ich könnte auch noch sterben und du dann ganz alleine bist. Ich werde alles versuchen, um weiterhin für dich da zu sein und gesund zu bleiben. Ich ernähre mich gesund, ich rauche nicht, ich mache Sport, ich passe auf, wenn ich mit dem Auto und dem Fahrrad fahre, ich … Und wenn mir etwas zustoßen sollte, wirst du nicht allein sein oder gar ins Kinderheim müssen. Dann wäre Deine Patentante und Dein Patenonkel, deine Oma, dein Opa, die / der … für dich da. Aber am besten ist es, wenn ich soooo lange für dich da bin, wie du mich brauchst. Und deshalb passen wir beide ganz, ganz gut aufeinander auf – ja?
Was wäre, wenn …? - Auch wenn ein solches Gespräch eine große Herausforderung ist, beruhigt es Kindern dennoch zu wissen, dass ihre Eltern verantwortungsvoll und vorausschauend für sie gesorgt haben.
„Kinder springen in Trauerpfützen hinein und wieder heraus“, sagt die Familientrauerbegleiterin Mechthild Schröter-Rupieper. Traurigsein und Fröhlichsein sind gleichermaßen wichtig und wertvoll. Mit dieser inneren Einstellung signalisiere ich dem Kind, dass es völlig in Ordnung ist, wie es seine Gefühle empfindet und wie es sich verhält. Kinder haben eine gute Selbstregulation – insofern wir sie lassen. Sie sorgen in ihrer Trauer immer wieder für kleine Auszeiten, in denen sie rumalbern, fröhlich sind und Quatsch machen, um dann wieder Trauern zu können.

In einer Videokonferenz sprach Redakteurin Claudia Lange mit Trauerexpertin Margit Franz
Authentizität von Eltern gegenüber Kindern ist wichtig, damit Kinder einschätzen können, wie es Mama oder Papa geht. Wenn sich Eltern „zusammenreißen“ und so tun, als ob nichts wäre, ist ein Kind vermutlich irritiert: „Hat der Papa die Mama gar nicht liebgehabt, weil er nicht weint?“ Deshalb weinen Sie auch vor Ihrem Kind und zeigen Sie ihm damit, wie es Ihnen geht. Auch in der Trauer sind Sie für Ihr Kind ein Vorbild! Ein Verlust kann nur durch Trauer bewältigt werden. Somit ist der einzige Weg, der aus der Trauer herausführt, der Weg, der aus der Trauer herausführt – für Sie und auch für Ihr Kind.
Wichtig ist zugleich, dass Sie den Familienalltag so gut wie nur möglich aufrechterhalten – mit allen seinen wichtigen Ritualen. Denn: Krisenhelfer Nummer 1 ist der Alltag! Nicht für Kinder, auch für die Erwachsenen. Versuchen die deshalb ganz bewusst mit Ihrem Kind gemeinsame Mahlzeiten einzunehmen, Freunde zu besuchen, dem Kind zu ermöglichen seinen Freizeitaktivitäten nachzugehen, das Zu-Bett-Geh-Rituale fortzuführen. Alles das gibt Ihrem Kind ein hohes Maß an Sicherheit und Orientierung.
Besonders belastend ist es für ein Kind, wenn aufgrund eines Todesfalls zuhause alles drunter und drüber geht und nichts mehr so ist, wie es war. Das überfordert Kinder – sie müssen nicht nur den Tod des Elternteils betrauern, sondern sich auch von ihrem vertrauten Alltag verabschieden.
Ein weiterer Belastungsfaktor ist, wenn der hinterbliebene Elternteil aufgrund der eigenen Trauer für das Kind emotional nicht mehr erreichbar ist. In dieser Situation ist es unbedingt erforderlich, sich als Eltern professionelle Hilfe und Unterstützung zu holen, beispielsweise durch eine vorübergehende Familienhelfer*in und seelsorgerische Begleitung bzw. Beratung.
Nur wenn es Ihnen gut geht, geht es auch Ihrem Kind gut. Es nützt Ihrem Kind nicht, wenn Sie sich „aufopfern“ und dabei über kurz oder lang zusammenklappen. Sprechen Sie mit Ihrem Kind darüber, wie wichtig für Sie kleine Auszeiten sind, um gesund zu bleiben. Überlegen Sie mit Ihrem Kind, wie Sie das gemeinsam organisieren könnten, so dass das Kind auch während Ihrer Abwesenheit sich gut umsorgt und aufgehoben fühlt. Wichtig ist, dass Sie ein soziales Netzwerk haben oder ein solches aufbauen, welches Sie dabei unterstützt, sich selbst etwas Gutes zu tun.
Von Sprüchen wie „Was, du trauerst noch immer …“ oder „So trauert doch kein Kind!“ und Ratschlägen wie „Also ich habe das mit unserem Sohn ganz anders gemacht.“ Sollten Sie sich unbedingt abgrenzen. Meist sind es hilflose Versuche anderer, irgendetwas zu sagen oder irgendwie helfen zu wollen. Die Betonung liegt auf „irgendetwas“ und „irgendwie“. Empathische Menschen, die sich wirklich für Sie und Ihre Situation interessieren, agieren anders. Sie fragen beispielsweise „Wie fühlst du dich?“ und „Was kann ich für dich tun?“ und „Wie kann dich unterstützen?“ Sie bieten ihre Hilfe an und sind für Sie da, wenn sie gebraucht werden. Einfühlsame Menschen sprechen nicht von sich und ihren Geschichten. Sie hören IHNEN zu und versuchen, sich auf SIE und IHRE Gefühle einzulassen. Menschen, die weder Ihnen noch Ihrem Kind guttun, erteilen sie eine klare und deutliche Absage: „Mir tut das Gespräch mit dir nicht gut, deshalb möchte ich es jetzt ganz schnell beenden.“ Das ist völlig legitim. Sie bestimmen, mit wem sie im Gespräch sein möchten und mit wem besser nicht.
Ja, es ist wichtig, dass auch Ihr Kind an der Beerdigung teilnehmen kann. Zum einen hat es ein Recht darauf, dabei und Teil der Trauerfamilie zu sein, teilzuhaben, mitzuwirken, mitzugestalten und sich von seiner Mama oder seinem Papa am Grab zu verabschieden. Diese Möglichkeit sollten Sie Ihrem Kind unbedingt eröffnen, indem Sie Ihr Kind vorher in viele Dinge praktisch einbeziehen: Welchen Sarg / welche Urne wollen wir aussuchen? Welche Kleidung soll der Verstorbene tragen? Möchtest Du den Blumenschmuck aussuchen? Welche Musik würde Papa gut gefallen? Welche Ideen hast Du für die Beerdigung – möchtest Du Luftballons fliegen lassen? Möchtest Du dem Papa noch etwas in den Sarg legen?
Es wäre gut, wenn Ihr Kind bereits zuvor einen Friedhof / Naturfriedhof, ein Grab oder eine Kirche gesehen hat. Dadurch sind ihm diese Orte vertraut.
Erzählen Sie Ihrem Kind, wie eine Beerdigung vor sich geht, dass die Menschen schwarze Kleidung anhaben und vermutlich weinen werden … Schauen Sie sich mit Ihrem Kind zuvor ein Bilderbuch an (z.B. „Nie mehr Oma Lina-Tag), auch das ist eine gute Vorbereitung für die Beerdigung.
Wichtig ist, dass Sie gemeinsam mit Ihrem Kind überlegen, wer es an der Beerdigung begleitet, seine Fragen beantwortet und – seinem eigenen Wunsch entsprechend – mit ihm die Beerdigung spontan verlassen kann, wenn es das möchte. Im Idealfall ist diese Person Ihrem Kind bereits vertraut (z.B. Paten, gute Freundin der Familie, Erzieher*in, Lehrer*in) und von der Trauer nicht zu tief betroffen, um Ihrem Kind ausreichend Halt geben zu können.
Auch wenn sich Ihr Kind von der Beerdigung frühzeitig verabschiedet, hatte es dennoch die Möglichkeit, dabei zu sein bzw. dabei gewesen zu sein. Es würde nicht über seinen Kopf hinweg entschieden „Dafür bist du noch zu klein!“ Dadurch fühlt sich ein Kind ausgeschlossen. Es kann nicht nachvollziehen, warum es nicht dabei sein darf und was an der Beerdigung mit seinem verstorbenen Papa „passiert“ ist.
Diese Frage ist für mich als Pädagogin schwer zu beantworten. Sie muss im Kontext und der Komplexität der Ereignisse betrachtet werden, die zur Trauer führten. In besonders belastenden familiären Situationen und / oder schwerwiegenden Todesfällen ist davon auszugehen, dass das Kindeswohl gefährdet ist. Unterstützungsangebote durch das Jugendamt und psychotherapeutische Hilfe sind dann sehr wichtig, um nicht nur dem Kind, sondern auch dem verbleibenden Elternteil zu helfen. Nachstehend mögliche Situationen, die eine hohe Belastungssituation für ein Kind darstellen:
- Die tödliche Krankheit war ungewöhnlich entstellend, zerrüttend oder verstümmelnd.
- Das Kind findet weder in Familie noch sozialem Umfeld angemessene Unterstützung und Hilfestellung.
- Missverhältnis zwischen dem Kind und dem verstorbenen bzw. überlebenden Elternteil.
- Der Verstorbene litt an einer psychischen Erkrankung.
- Das Kind bzw. die Erwachsenen fühlen sich am Tod schuldig.
- In der Familie treten mehrere Todesfälle nacheinander auf.
- Der Tod war tragisch, traumatisch, grausam oder dramatisch.
- Der überlebende Elternteil leidet an einer neurotischen Erkrankung.
- Der überlebende Elternteil vernachlässigt aus Trauer das Kind.
- Der überlebende Elternteil trauert in krankhafter Weise.
- Das Kind war Augenzeuge eines gewaltsamen Todes.
- Der Tod kam plötzlich und völlig überraschend.
- Suizid von Mutter und / oder Vater.
- Tod beider Eltern. (vgl. Klimann, 1968, 102)[1]
Wichtig ist festzuhalten, dass nur ein Arzt / eine Ärztin darüber entscheiden kann, ob und inwieweit therapeutische Hilfe erforderlich ist.
[1] Klimann, G.: Seelische Katastrophen und Notfälle im Kindesalter, Stuttgart 1968.